„Sie sehen ja aus wie ein Astronaut“

Corona-Ausbruch im Pflegeheim

Es ist ein Szenario, das alle fürchten – ein Corona-Ausbruch im Pflegeheim. Denn das Virus trifft nicht nur besonders gefährdete Risikogruppen, sondern macht auch vor dem Personal nicht Halt. Um die Versorgung zu sichern, ist oftmals der Einsatz Freiwilliger gefragt. Ein Erfahrungsbericht.

Es ist mein erster Frühdienst seit vielen Jahren. Ich bin müde und etwas aufgeregt. Für die nächsten fünf Tage werde ich als freiwillige Pflegekraft auf einer Corona-Station in einem Pflegeheim aushelfen. Hier ist es vor einer Woche zu einem Ausbruch gekommen, etwa ein Drittel der 77 Bewohner und Bewohnerinnen (im Folgenden Bewohnerinnen), aber auch viele Pflegende sind infiziert. „Das Virus ist wie ein Feuersturm über die Einrichtung hinweggefegt“, sagt mir der Heimleiter in unserem ersten Gespräch. „Der untere Wohnbereich ist komplett betroffen.“ Zwölf Pflegende seien in Quarantäne, sodass er nur jonglieren könne, um die Dienste halbwegs ausreichend zu besetzen. „Im Moment bekommen wir kaum eine Pflege hin, die dem Minimalanspruch gerecht wird.“

Mit Maske und Sicherheitsabstand

Im Wohnbereich angekommen, bekomme ich als erstes eine FFP2-Maske, Gesichtsschutzschild und Schutzkittel überreicht und erhalte eine kurze Einweisung in die Hygienemaßnahmen. Viel Zeit für eine Einarbeitung wird es nicht geben, das hat mir der Heimleiter bereits gesagt. Aber: „Pflege ist ja wie Fahrradfahren, das verlernt man nicht“, meint er mit einem Augenzwinkern. Meine Aufgabe sei es, bei der direkten pflegerischen Versorgung zu helfen, bei der Körperpflege, beim Essen reichen – da könne er andere Freiwillige ohne Pflegeausbildung nicht einsetzen. Und: „Ich muss Sie darauf hinweisen: Sie können sich anstecken, und Sie werden Einschränkungen im privaten Bereich haben. Denken Sie darüber nach.“

Keine 24 Stunden später sitze ich bei der ersten Übergabe. Es ist Samstag, 6.45 Uhr. Von meinen neuen Kolleginnen sehe ich nur die Augen, alle tragen Masken und sitzen mit größtmöglichem Sicherheitsabstand zueinander. Kühle Morgenluft zieht durch das geöffnete Fenster, die Pflegende des Nachtdiensts rührt müde in ihrem Kaffee und berichtet, wie die Nacht gelaufen ist. Wir sind heute zu fünft im Frühdienst, bei rund 30 Bewohnerinnen, die betreut werden müssen, fast alle infiziert. Neben mir sind es noch zwei weitere Pflegende, die aushelfen – Martina, die von einem anderen Wohnbereich kommt, und Sandra aus der Tagespflege. Nur Astrid und Frank sind als eingearbeitete Fachkräfte da. Sie sind die Einzigen, die alle Bewohnerinnen kennen und den Überblick haben.

Ich bin zusammen mit Astrid im rechten Teil des Wohnbereichs eingesetzt. Wir unterstützen bei der Körperpflege, waschen und positionieren diejenigen, die nicht aufstehen können, messen Temperaturen und beobachten alle Bewohnerinnen genau. Zwischendurch lüften wir immer wieder, um die Viruslast zu senken. Bei der Körperpflege ist man sehr nah an den Bewohnerinnen dran, Abstand halten ist da nicht möglich.

Traurige Nachrichten und Lichtblicke

Einige Bewohnerinnen husten, haben erhöhte Temperatur und sind sehr schlapp. Manche leiden an Durchfällen und Erbrechen. Generell ist die Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme ein Problem, viele Bewohnerinnen haben keinen Appetit und essen und trinken deutlich zu wenig. Wir protokollieren die Flüssigkeitsaufnahme genau, um den Überblick zu behalten. Manche erhalten in der Folge subkutane Infusionen, um den Flüssigkeitsmangel auszugleichen. Bei einigen sind die Symptome so stark, dass sie ins Krankenhaus verlegt werden müssen. Und zwei Bewohnerinnen, die im Wohnbereich bleiben, sterben in den fünf Tagen, an denen ich vor Ort bin. Beide sind schwerstpflegebedürftig und sterben vermutlich mit – und nicht an Corona. Dennoch sind es traurige Nachrichten, die uns der Nachtdienst übermittelt.

Einmal pro Schicht erhalten die Bewohnerinnen ein Screening, bei dem Temperatur, Puls und Sauerstoffsättigung gemessen und dokumentiert werden. Auch halten die Pflegenden fest, ob es zu den typischen Covid-19-Symptomen wie Husten, Schnupfen, Halsschmerzen, Atemnot oder einer zunehmenden Verwirrtheit kommt. Gerade bei Menschen mit Demenz ist Letzteres schwer festzustellen – vor allem, wenn man die Personen nicht kennt. „Soll ich Ihnen mal was sagen“, sagt mir Frau L. mehrfach bei der morgendlichen Pflege, „mir geht es heute gar nicht gut. Mir ist ganz komisch im Kopf.“ Als ich Astrid davon berichte, schmunzelt sie. Genau darüber klagt Frau L. schon seit Wochen – kein Grund zur Sorge also.

Es gibt auch Lichtblicke. An einigen geht die Erkrankung quasi symptomlos vorüber. Die 91-jährige Frau S. berichtet mit sichtlichem Stolz in der Stimme: „Ich habe das Virus auch, aber ich merke gar nichts! Nicht mal eine Erkältung.“ Auch andere infizierte Bewohnerinnen machen im Verlauf der Tage wieder einen recht munteren Eindruck und laufen nach ein paar Tagen Bettruhe wieder mit ihrem Rollator herum. Da quasi der komplette Wohnbereich betroffen ist, dürfen die Bewohnerinnen ihre Zimmer verlassen. Sie sitzen – wenn ihr Allgemeinzustand es erlaubt – im großen Wohnküchenbereich, nehmen hier ihre Mahlzeiten ein, spielen und singen mit den Betreuungskräften oder ziehen ihre gewohnten Runden über den Flur. Die wenigen Nicht-Infizierten des Wohnbereichs verbleiben in ihren Zimmern und werden dort betreut.

Damit die Bewohnerinnen möglichst wenig allein sind, hat der Heimleiter zusätzliche Betreuungskräfte organisiert – darunter eine Pfarrerin und eine Psychologiestudentin. Sie sitzen am Bett der erkrankten Menschen, reichen Getränke an, trösten und sprechen Mut zu. Manchmal halten sie auch nur eine Hand. Seit dem Ausbruch gilt wieder absolutes Besuchsverbot, und die Bewohnerinnen leiden sehr darunter. „Wie Einzelhaft ist das“, sagt mir Frau Z., die vor einem Jahr aus Baden-Württemberg nach Hessen gezogen ist, um in der Nähe ihrer Tochter zu sein. Wegen Corona kann sie diese aber schon seit Monaten kaum sehen, und wenn, dann nur unter strengen Hygieneauflagen. Sie telefoniert zwar regelmäßig mit ihrer Tochter und ihrer Schwester, fühlt sich aber einsam.

Andere erhalten „Fensterbesuche“, bei denen die Angehörigen draußen stehen und durch das geöffnete Fenster zumindest für eine Weile mit ihrer Mutter oder Großmutter plaudern können. Das ist aber nicht bei allen Bewohnerinnen möglich. Viele scheinen gar keine Außenkontakte mehr zu haben.

Arbeiten an der Grenze der Belastbarkeit

Nach jedem Frühdienst bin ich körperlich geschafft und erleichtert, dass ich endlich die Schutzkleidung ablegen und wieder frei atmen kann. Vor allem die Gesichtsmaske ist für alle eine Belastung. „Kommen Sie mal näher ran“, sagt Frau Z. mir, als ich morgens in ihr Zimmer komme, „ich kann sie ja gar nicht erkennen.“ Sie hat auch Schwierigkeiten, mich zu verstehen, denn die Maske bedeckt mehr als die Hälfte meines Gesichts – Lippenlesen, wie es Schwerhörigen sonst das Verstehen erleichtert, ist da nicht möglich.  

Eine andere Bewohnerin schaut mich irritiert an und sagt: „Sie sehen ja aus wie ein Astronaut!“ So ähnlich fühlt sich die Schutzausrüstung auch an. Über die Dienstkleidung kommt ein Einmalschutzkittel, dann trage ich eine FFP2-Maske und darüber ein durchsichtiges Gesichtsschutzschild. Hinzu kommen die Gummihandschuhe, die ich immer wieder wechsele. Die vielen Gummis drücken an meinen Ohren, ich schwitze und mein Schutzschild beschlägt immer wieder. Die FFP2-Maske liegt sehr eng an, wenn ich sie abnehme, habe ich Druckstellen im Gesicht. Die Schutzausrüstung trage ich durchgehend, nur einmal pro Schicht mache ich Pause und esse schnell ein mitgebrachtes Brot. Ich trinke wenig, um nicht auf die Toilette zu müssen.

Überhaupt ist gar nicht die Zeit, um Pausen zu machen. Morgens gibt es eine schnelle Übergabe von vielleicht zehn Minuten und schon strömen wir alle auf den Wohnbereich – so viele Bewohnerinnen, die unsere Unterstützung benötigen, so viel zu tun. Wir mobilisieren und positionieren die Bewohnerinnen, begleiten sie bei Toilettengängen, wechseln Inkontinenzvorlagen, cremen wunde Hautstellen ein, verabreichen Medikamente und reichen Getränke und Mahlzeiten an. Wenn mal etwas Zeit übrig ist, bemühen wir uns, kleine Wünsche zu erfüllen. „Ich würde so gerne mal wieder duschen“, sagt Frau T. schon an meinem ersten Tag. „Ich habe schon seit zwei Wochen nicht mehr geduscht.“ Zwei Tage später nutze ich ein freies Zeitfenster und drehe die Heizung im Bad auf gefühlte 32 Grad auf – Frau T. hat es gerne warm. Sie ist 89 Jahre und eine der wenigen, die geistig noch vollkommen klar ist. Sie kommt aus Bayern und trinkt Sonntagmorgens schon mal gerne ein bayerisches Bier, einen Frühschoppen, wie sie sagt. Für das Duschen brauchen wir fast eine Stunde, danach bin ich schweißgebadet. Aber Frau T. sitzt zufrieden, wohlduftend und leicht erschöpft in ihrem Sessel, und wir beide finden, die Aktion hat sich gelohnt.

Erschöpft sind auch die Pflegenden, vor allem diejenigen, die zum Stammpersonal gehören. Viele von ihnen übernehmen in den ersten Tagen freiwillig zusätzliche Schichten und arbeiten an der Grenze der Belastbarkeit. Der Heimleiter ist dankbar für ihren Einsatz, weiß aber auch, dass das nur eine begrenzte Zeit geht und dass diese Mitarbeitenden danach freie Tage oder – noch besser – einen Urlaub brauchen. Er organisiert Zeitarbeitskräfte – das erste Mal überhaupt, seitdem er die Einrichtung leitet, obwohl er das Zeitarbeitsmodell sehr kritisch sieht. Aber er möchte seine Bewohnerinnen versorgt wissen und seine Mitarbeitenden schützen. Er weiß, wie hoch die Belastung ist.

Blick hinter die Kulissen

Nach fünf Tagen ist mein Dienst beendet. Die Personalsituation hat sich zum Glück ein wenig entspannt, mehrere Pflegende sind aus der Quarantäne zurückgekehrt. Einige haben jedoch auch schwere Verläufe und bleiben weiter zu Hause. Ich bin erleichtert und gleichzeitig etwas traurig, den Wohnbereich und die Bewohnerinnen wieder zu verlassen. Für mich waren diese fünf Tage ein wertvoller Blick hinter die Kulissen, der vielen verwehrt bleibt. Ich würde mir wünschen, dass Gesundheitspolitiker und all diejenigen, die im Moment Entscheidungen zur Pflege in der Pandemie treffen, mal für einen Tag auf einer Corona-Station hospitieren. Nur dann kann man die Situation der Pflegenden ansatzweise nachempfinden.

Denn was die Pflegenden und Betreuungskräfte auf einer Corona-Station leisten, ist außergewöhnlich. Sie arbeiten über Stunden hinweg in engen Schutzmaterialien, unter denen es sich nur schwer atmen lässt. Sie kompensieren den Ausfall vieler Kolleginnen und Kollegen, machen Überstunden und betreuen zusätzlich noch die nicht eingearbeiteten Hilfskräfte. Sie halten das Leid derjenigen aus, die im Moment kaum gesehen werden – alte und an Demenz erkrankte Menschen, die die Situation überhaupt nicht verstehen können und sichtlich darunter leiden. Und sie arbeiten mit dem täglichen Risiko, sich selbst und damit auch das eigene Umfeld anzustecken. Manchmal werden sie sogar stigmatisiert – denn wer möchte in dieser Zeit schon gerne Menschen treffen, die im Kontakt mit Covid-19-Patienten stehen?

 Was ich aber auch als Erfahrung mitnehme, sind die vielen schönen Momente mit den Bewohnerinnen. Das fröhliche Lächeln von Frau S., wenn ich morgens in ihr Zimmer komme, das glückliche Lachen von Frau T., als ich ihre verloren geglaubte rosa Lieblingsstrickjacke wiederfinde, oder die kleinen Erfolgserlebnisse, wenn eine Bewohnerin es wieder schafft, selbstständig ein Glas Wasser zu trinken oder mit Unterstützung auf die Toilette zu gehen. Der Philosoph Markus Gabriel hat in einem Interview mit dem „Stern“ mal von sogenannten Glücksjobs gesprochen und als Beispiel die Altenpflege genannt. „Nur haben Pflegende heute zu wenig Zeit pro Patient“, sagte er dazu. „Bei mehr Zeit für das Wesentliche, mehr Wertschätzung und besserem Gehalt kann das fraglos ein Glücksjob sein.“ Ich kann ihm nur zustimmen.

Alle Namen der Pflegenden und Bewohnerinnen wurden geändert.

 

Text: Brigitte Teigeler ist Fachjournalistin, Dozentin und Diplom-Pflegewirtin.

Mail: mail@brigitte-teigeler.de